„Das Leben der Anderen“
Psychologische Filminterpretation
von Gerhard Rieck
Die Deutungen dieses Filmes beziehen sich fast immer auf
seine politische Ebene, seine große Wirkung beruht allerdings vermutlich
vorwiegend auf
seiner psychologischen Dimension.
Die Figurenkonstellation erinnert an klassische
Königsdramen: Eine Frau zwischen einem mächtigen, harten, selbstbewussten,
unsympathischen Mann und einem jüngeren, der weniger mächtig ist, aber
sensibler, unsicherer und sympathischer. Im Film besteht dieses Dreieck aus der
Schauspielerin, dem Minister und dem Schriftsteller. Die analoge Konstellation
findet sich unter anderem im „König Ödipus“ von Sophokles (Jokaste, Laios,
Ödipus), im „Hamlet“ von Shakespeare (Hamlets Mutter, Hamlets Onkel, Hamlet),
im „Don Carlos“ von Schiller (Carlos´ Stiefmutter, Carlos´ Vater, Carlos) und
in vielen weiteren Mythen, Dramen, Romanen und Erzählungen der Weltliteratur.
Sehr oft handelt es sich also um das Dreieck Mutter – Vater – Sohn, immer
wieder allerdings in verschleierter Form („Hamlet“: Onkel statt Vater, „Don
Carlos“: Stiefmutter statt Mutter).
In „Das Leben der Anderen“ ist dieses Dreieck ebenfalls
anzutreffen. Minister und Schriftsteller, welche beide dieselbe Frau lieben,
sind unschwer im übertragenen Sinn als Vater- und Sohn-Figur zu deuten, bei der
Schauspielerin hat der Drehbuchautor die Information „Mutterfigur“ auf
zweifache Weise „versteckt“. Einerseits korrespondiert sie in der Szene, in der
der Schriftsteller mit der Krawatte kämpft, mit der Wohnungsnachbarin, von der
wir nur erfahren, dass sie Mutter ist. Und andererseits lautet der Vorname der
Schauspielerin Christa-Maria, eine deutliche Anspielung auf die Maria der
Christen, welche als Mutter Gottes das Sinnbild der Mutter schlechthin ist.
Auch der Nachname „Sieland“ weist in dieselbe Richtung: Für ein Kind (und der
„Ödipuskonflikt“, auf dem der Stoff beruht, entsteht ja im Kleinkindalter)
steht die Mutter für das Reich der Frauen, für das Land aller „Sie“, ist mithin
das „Sieland“.
Eine zu enge und damit potentiell inzestuöse Beziehung des
Sohnes zur Mutter führt nun laut Freud im Sohn zur Bildung eines strengen,
bestrafenden Über-Ichs. Also führt die Beziehung des Schriftstellers zur
Schauspielerin (der Geliebten des Ministers = Vaters) zu seiner Überwachung und
Bedrohung. Diese erfolgt konsequenterweise vom Dachboden (vom Kopf) aus und
kontrolliert das Darunter (den "Bauch", den Unterleib).
Typisch für die Konstellationen in den Königsdramen ist nun,
dass hier zwei Instanzen, die des „Vaters“ und die des „Sohnes“, einander unversöhnlich
gegenüberstehen. Was den Film davon abhebt, ist die Einführung einer dritten
Instanz, die zwischen den beiden Fronten wandert. Ein Teil des Über-Ichs
(repräsentiert vom Stasi-Offizier Wiesler) wird
aufgeweicht, wechselt die Seite, wird zum Verbündeten des Ichs (des
Schriftstellers). Wenn man die Geschichte
nicht als in einer äußeren Realität unter verschiedenen Menschen spielende
sieht, sondern in einer „inneren
Realität“ unter Persönlichkeitsanteilen, dann wird aus der in zwei Teile
gespaltenen Person des Schriftstellers eine aus drei Teilen, aus drei Männern
bestehende. (Vielleicht heißt der Schriftsteller genau deshalb „Dreyman“.)
Wahrscheinlich ist es diese „Über-Ich-Drift“, die den Erfolg des Films zum großen Teil erklären kann und welche das Publikum am meisten berührt. Der Drehbuchautor und Regisseur (Florian Henckel von Donnersmarck) lässt den Minister zu Beginn sagen, dass sich die Menschen nicht verändern, und der restliche Film dient dazu, diese Aussage Lügen zu strafen. Diese Botschaft kann für zu optimistisch befunden werden, aber dass sie als hoffnungsvoll betrachtet wird, das beweist der Erfolg des Streifens.
Nicht unerwähnt soll allerdings der Preis bleiben, den das Ich (der Schriftsteller) bezahlen muss, um das Über-Ich (den Minister bzw. seine Handlanger) von einer weiteren Verfolgung des Ichs abzuhalten: Beider Geliebte (die Schauspielerin) muss sterben - und das heißt übersetzt, dass das Ich auf die Mutter verzichten muss und an ihre Stelle eine andere Frau tritt, wie dies ja im Film auch geschieht.
Abschließend soll noch auf die Analogien hingewiesen werden, die zwischen „Das Leben der Anderen“ und „Caché“ von Michael Haneke bestehen. Beide Filme wurden hintereinander „Europäischer Film des Jahres“, in beiden geht es um Überwachung („Caché“ beginnt schon eindrucksvoll damit) und in beiden passiert gegen Ende ein spektakulärer Selbstmord. Auch das Gewissen (= das Über-Ich) spielt jeweils die Hauptrolle, nur interessanterweise gegenläufig: In „Caché“ wird es immer strenger, in „Das Leben der Anderen“ immer milder ...
Gerhard Rieck, geboren 1947,
Autor der Kafka-Website "Franz Kafka konkret" (https://kafka.drnet.at/)
(Diese Interpretation wird mit ausdrücklicher Zustimmung des Filmregisseurs,
Florian Henckel von Donnersmarck, veröffentlicht)