Franz Kafka konkret
(Gerhard Rieck: Franz´Kafka und die Literaturwissenschaft. Aufsätze zu einem kafkaesken Verhältnis. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.)
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Literaturwissenschaftler sind in der Regel
philosophisch ausgebildet und neigen dazu, Textdeutung sehr
abstrakt und entlang ihrer bevorzugten philosophischen
Orientierung zu betreiben. Philosophen, die sich als Interpreten
betätigen, sind vollends in der Gefahr, die von ihnen vertretene
Philosophie den zu deutenden Texten zu unterlegen und diese als
Bestätigung für jene zu missbrauchen. Anstelle von seriöser
Textinterpretation tritt dann sozusagen "angewandte
Philosophie".
Paradebeispiel für solches Vorgehen ist vielleicht Jacques Derrida mit seiner Interpretation der "Türhüterlegende", in der dieser einzelne, isolierte, kurze Text zur Bestätigung der Privatphilosophie des Deuters herhalten muss. Auf ähnliche Weise wie in diesem Beispiel die Postmoderne haben auch andere Philosophien des 20.Jahrhunderts Franz Kafka für sich zu vereinnahmen versucht. Mit Hilfe selektiver Wahrnehmung wurden dabei passende Textstellen gründlich verarbeitet und unpassende, im Widerspruch zum eigenen Deutungsansatz stehende ebenso gründlich übersehen. Ergebnis sind die bekannten "erfolglos mäandernden Deutungsaktivitäten" (Karl-Heinz Fingerhut).
Als Ausweg empfiehlt sich das Abrücken von der Einzeltextinterpretation hin zur gründlichen Analyse aller Texte des Autors, sowie die aufmerksame Untersuchung der sich durch das gesamte Werk hindurch wiederholenden Motive, Elemente und Strukturen. Und vor allem die Verschiebung des Fokus von der Abstrahierung hin zum Konkreten. Dann kann erkannt werden, dass Franz Kafka, der Dichter des "Kafkaesken", der mit seinen nur scheinbar Sinn, Bedeutung und Wirklichkeit auflösenden ("dekonstruierenden") Texten zur Verabstrahierung einzuladen scheint, auf einer anderen Ebene mit erfreulich häufigen konkreten Motiven und Bezügen eine rational fassbare Wirklichkeit wieder herstellt, welche den dem "Primat der Unergründbarkeit" verfallenen Interpreten jahrzehntelang verborgen bleiben musste.
In meiner Studie "Kafka konkret - das Trauma ein Leben" versuche ich, die von der akademischen Literaturwissenschaft bisher zum großen Teil vernachlässigten Wiederholungsmotive und Wiederholungsstrukturen in Kafkas Texten herauszuarbeiten. Wie diese dann zu deuten sind, ist eine andere Angelegenheit - aber jede ernst zu nehmende Interpretation sollte sie zumindest in ihrer Bedeutung wahrnehmen. Ich selbst deute sie vornehmlich psychologisch, was naturgemäß auf großen Widerstand stößt. Man kann sie natürlich auch anders deuten, nur so wie bisher geringschätzen sollte man sie nicht.
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgt in meinem Buch "Franz Kafka und die Literaturwissenschaft. Aufsätze zu einem kafkaesken Verhältnis" (Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002).
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