Franz Kafka konkret
(Gerhard Rieck: Kafkas Rätsel. Fragen und Antworten zu Leben, Werk und Interpretation. Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.)
Bestellinformationen zu diesem Buch aus einem Buchkatalog ("amazon.de"): hier.
Das Vorurteil: Kafka ist einer der
unergründbarsten Autoren der Literaturgeschichte. Sein Werk ist unendlich
vielschichtig und von unauflösbarer Rätselhaftigkeit.
Das Gegenargument: Kafka ist ein Dichter der Wiederholungen. Die sein gesamtes Werk prägenden, in ihrer Häufigkeit und Auffälligkeit unerwartbaren Wiederholungsmotive und -strukturen erlauben, sorgfältig analysiert, Antworten auf viele wichtige und bisher für unlösbar gehaltene Fragen.
In diesem Sinn richtet sich das Buch nicht nur an Literaturwissenschaftler, sondern an alle Leserinnen und Leser, die an Kafkas Werk interessiert sind, insbesondere aber an jene, welche der Kult der Nicht-Enträtselbarkeit, der um diesen Dichter herum betrieben wird, nicht zufriedenstellt.
Fragen an ein literarisches Kunstwerk sollen nicht Selbstzweck sein, sondern fordern auch das gewissenhafte Bemühen um konkrete Antworten. Viele Autoren geben uns dazu jeweils für sie charakteristische Deutungshilfen. Bei Kafka sind dies die ebenso häufigen wie seltsamen Wiederholungsmotive und -strukturen und darüber hinaus Zwillings- und Wiederholungstexte.
Das beginnt in vielen seiner Hauptwerke schon mit dem jeweils ersten Satz, in dem uns der Dichter unmittelbar an den Ort des beginnenden Verhängnisses führt
(Anstelle einer Inhaltsbeschreibung folgt ein kurzer Essay
zu einigen wichtigen Themen des Buches. Alle Rechte für diesen Text verbleiben
zur Gänze beim Autor. Jede, auch nur teilweise Veröffentlichung oder
Vervielfältigung, in welcher Form auch immer, bedarf der Zustimmung des Autors)
Lässt sich Kafkas Werk mit
einem Satz deuten?
Michael Haneke hat in einem Radiointerview einmal gemeint: „Ich z.B. interessiere mich seltenst für die Biographie des Schöpfers eines Kunstwerks, weil es mir den Zugang zur Komplexität des Werks verstellt; also wenn ich den Zugang zu Kafka über sein Psychogramm mache, reduziere ich dieses gigantische Werk auf einen sehr schmalen Bereich, und das ist meistens frustrierend.“
Diesem Satz werden wohl die meisten Germanisten und Literaturwissenschaftler zustimmen, denn die Überzeugung von der unendlichen Vielschichtigkeit der Literatur Kafkas und ihrer unauflöslichen Rätselhaftigkeit sowie die Geringschätzung psychologischer Deutungen zählen zum Grundkonsens der akademischen Interpreten.
Was sehr viele behaupten, muss aber nicht notwendigerweise auch wahr sein. Wer sich schon im weiten Kosmos der Kafka-Deutungen umgesehen hat, wird vielleicht die Erfahrung gemacht haben, dass auch der nicht auf den „schmalen Bereich“ der biographischen bzw. psychologischen Ebene fokussierte, sondern sich nach allen Richtungen ausbreitende Interpretationsfuror ganz schön frustrierend sein kann. Verstellt vielleicht gar die letzten Endes unverbindliche Komplexität der Deutungsvielfalt den Zugang zur verbindlichen Komplexität des Werks? Oder, noch provokanter: Ist diese Komplexität eine psychische und verstellt dann die Geringschätzung der psychologischen Dimension erst wirklich den Zugang zum Werk? Ist die menschliche Seele nur ein „sehr schmaler Bereich“ oder nicht doch ein „weites Land“?
Als Josef K. im Schlusskapitel des „Prozess“ von seinen Henkern abgeholt und bevor er außerhalb der Stadt erstochen wird, macht er zwei interessante Beobachtungen. Ehe er sich mit den Schergen des Gerichts auf den Weg macht, sieht er ins Haus gegenüber: „In einem beleuchteten Fenster des Stockwerkes spielten kleine Kinder hinter einem Gitter miteinander und tasteten, noch unfähig, sich von ihren Plätzen fortzubewegen, mit den Händchen nacheinander.“ Und mit seinem wortwörtlich letzten Augenblick, ganz knapp vor seinem gewaltsamen Tod, sieht er erneut nach einem Fenster, im an den Steinbruch angrenzenden Haus: „Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus.“ Vergeblich, denn Josef K. „hob die Hände und spreizte alle Finger“, da wird er aber auch schon erstochen.
Zwei Beobachtungen mit eindrucksvollen Parallelen! Kafka teilt hier unmissverständlich mit, dass der Lebensweg des Josef K. von früher Kindheit an bis zum Tod geprägt ist von nacheinander ausgestreckten Armen bzw. Händen, erst also die von ganz kleinen Kindern, dann die von Erwachsenen, vor allem bei letzteren vergeblich.
Wofür stehen aber diese Figuren? Abstraktionsverliebte Deuter werden wohl gleich an eine letztlich allgemeine, unvermeidliche, ausweglose Distanz zwischen uns Menschen denken, eine der Aporien des Lebens. Aber Kafka ist kein abstrakter Autor, sondern einer der konkretesten. Und er ist ein Dichter der Wiederholungen. Das Motiv des Nicht-zueinander-Kommens zweier Menschen (bzw. – vor allem in den Romanen – eines einzelnen Menschen und einer Gruppe) prägt seine Texte unübersehbar, und bei genauerer Betrachtung findet sich schließlich eine konkrete Lösung des Rätsels, wer hier nicht zueinanderfindet und warum.
Kafkas Figurenpersonal
Die meisten bedeutenden und etwas längeren Texte dieses Autors handeln von der Auseinandersetzung zweier Gegenspieler mit zumeist unversöhnlichen Differenzen. In den Romanen sind es, wie gesagt, ein Protagonist und eine ihm feindselig gegenüberstehende Hierarchie (im „Verschollenen“: diverse Großbetriebe, im „Prozess“: das Gericht, im „Schloss“: die Schlossbürokratie), in den Erzählungen in der Regel zwei Hauptfiguren: im „Urteil“ Vater und Sohn, in der „Verwandlung“ Gregor und Grete Samsa, in der „Strafkolonie“ Offizier und Forschungsreisender, im „Landarzt“ Arzt und Pferdeknecht usw. Und auffallend oft positioniert Kafka zwischen die Gegenspieler noch zwei Nebenfiguren, ich nenne sie die „Zwei Gehilfen“. Im „Schloss“ sind es Jeremias und Artur, des Landvermessers Gehilfen aus dem Schloss, im „Verschollenen“ sind es Delamarche und Robinson, zwei Schlossergehilfen, im „Prozess“ die beiden Wächter und die beiden Henker für Josef K., in der „Strafkolonie“ die zwei Soldaten, im „Landarzt“ die zwei Pferde.
Der wichtigste Moment jeder sinnvollen Kafka-Interpretation ist aber dann gekommen, wenn sich herausstellt, dass der Dichter immer wieder Haupt- und Nebenfiguren in die größtmögliche Nähe zueinander rückt, ja sie letzten Endes als Anteile einer einzigen Person deklariert. Hier kann dazu natürlich nicht der letzte Nachweis geführt, sondern nur die Spur gelegt werden.
Wenn also Josef K. mit den beiden Abgesandten des Gerichts zu seiner Hinrichtung unterwegs ist, dann bilden diese drei „eine solche Einheit, daß, wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären“. Generell sind die oben angeführten „Gehilfen“ immer so eng mit den jeweiligen Protagonisten verbunden, dass alle zusammen eine nur schwer trennbare, für die Hauptfigur immer unerwünschte und gefährliche Trias bilden. Und auch Gregor und Grete Samsa in der „Verwandlung“ sind eine Person: Sie teilen die ersten drei Buchstaben ihres Vornamens und ihre „Verwandlungen“ verweisen aufeinander – während Gregor verwelkt, blüht Grete auf, so wie es zu erwarten ist, wenn ein Persönlichkeitsanteil auf Kosten des gegensätzlichen triumphiert. Auch in anderen Texten gibt Kafka oft genug deutliche Hinweise auf die gemeinsame Identität der gegnerischen Figuren.
Größtmögliche, untrennbare Nähe und unaufhebbarer Gegensatz müssen nun kein Widerspruch sein. Zwei unversöhnliche Anteile eines Menschen sind gleichzeitig in maximaler Nähe (in der gleichen Psyche, dem gleichen Gehirn) und in maximaler Entfernung (maximal einander entfremdet).
Einheit von Leben und Werk
Damit aber bildet das Personal der Kafka´schen Texte genau den Seelenzustand seines Autors ab, der sich nach eigenen, oftmals wiederholten Angaben von zwei inkompatiblen Gegnern in seinem Inneren zerrieben fühlte (insbesondere wenn eine Frau in sein Leben trat). In seiner Literatur lässt Kafka diesen Kampf auffallend oft auf sadomasochistische Weise führen, manchmal brutal und offen, manchmal subtil und versteckt, wobei u.a. die „Zwei Gehilfen“ als personifizierter Sadomasochismus auftreten.
Es ist bei ihm vorausblickendes Programm, wenn er seinen ersten längeren Text „Beschreibung eines Kampfes“ nennt (darin mehrere einander abwechselnde Figurenpaare einen offenen oder versteckten Kampf austragen) und wenn er schon zuvor, noch im Gymnasialalter, den Plan wälzt, einen bezeichnenden Roman zu schreiben: „Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften“. Diesem Plot bleibt Kafka bis ans Ende treu, noch seine letzte Erzählung – „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ – präsentiert dieses (hier subtile) Gegensatzpaar, Josefine und den Ich-Erzähler.
Wenn sich die Kafka-Deutung in 10000 bis 20000 Arbeiten erschöpft und angeblich zu keinem verbindlichen Ende kommen kann, lässt sich dagegen eine provokante Ein-Satz-Deutung denken: Kafkas Werk ist die Beschreibung des sadomasochistisch geführten Kampfes zweier unversöhnlich gegensätzlicher Persönlichkeitsanteile. Kafkas Literatur spielt nicht in einer Außenwelt, sondern in einer Innenwelt, nämlich in seiner.
Und damit ist die Anschauung, eine psychologische (und das „Psychogramm“ des Autors einbeziehende) Deutung verstelle den Blick auf die Komplexität des Werks, ad absurdum geführt. Die Komplexität des Werks ist eine psychologische, und erst deren Geringschätzung oder gar Ausklammerung erschwert den Zugang erheblich. Die Seele ist tatsächlich ein weites Land, eine größere Komplexität als die ihre ist nicht denkbar, und Kafkas Leben und Werk illustrieren eine ihrer wichtigsten Dimensionen, auch wenn es die meisten seiner Exegeten nicht wahrhaben wollen.
Haupt- und Nebenwege der Deutung
Da Kafka aber ein sehr aufmerksamer Beobachter ist, nimmt er aus der ihn umgebenden Welt vielfältige Anregungen auf, um sie der literarischen Beschreibung seines inneren Kampfes dienstbar zu machen. Die so entstehenden Nebenbedeutungsebenen greifen akademisch gebildete Ausleger nur zu gerne auf, um das, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, Kafka überzustülpen. Insbesondere der naheliegende Bezug des Juden Kafka zum Judentum, aber abwechselnd auch örtliche, zeitliche, historische, gesellschaftliche, ökonomische und viele andere Aspekte sollen seinem Werk angeblich ihren Stempel aufdrücken, wenn nicht gar religiöse oder philosophische.
Aber Kafka macht es ihnen diesbezüglich schwer. Das Wort „Jude“ kommt in seinen Erzähltexten kein einziges Mal vor, „Gott“ nur in Ausrufen und Alltagsfloskeln, Hinweise auf die Erzählzeit der Texte fehlen fast immer, konkrete Orte werden kaum je genannt, politische und ökonomische Verhältnisse spielen nur am Rand eine Rolle, und philosophiert wird nur in den Betrachtungen und Aphorismen Kafkas. Er schottet seine Erzähltexte offenbar absichtlich gegenüber all diesen Nebengeleisen ab. Wer aber argumentiert, dass diese Themen zwar nicht explizit Kafkas fiktionale Texte prägen, dafür aber umso intensiver implizit, „zwischen den Zeilen“, dem muss entgegengehalten werden, dass nur der Wortlaut der Texte von Kafka stammt, das „zwischen den Zeilen“ hingegen allzu oft von den Deutern.
Der Dichter macht sich die geistige und materielle Welt um ihn herum für die Beschreibung seines Kampfes untertan, und nicht umgekehrt. Wer die Außenbezüge seiner Dichtung über die nach innen weisenden stellt oder seine konkreten Motive und Textstrukturen ins Abstrakte wendet, nimmt Kafka nicht ernst.
Die Natur des Kampfes
Was für ein Kampf wird nun da beschrieben, und warum kommt es überhaupt zu dieser mörderischen inneren Auseinandersetzung, zu diesem sadomasochistisch imprägnierten Zwiespalt in einer Psyche? Er muss wohl allzumenschlich sein, sonst wäre Kafkas Wirkung nicht erklärbar. Auch für die Antwort auf diese Frage kann hier der Raum nicht reichen und es kann nur die Richtung angedeutet werden, in der des Rätsels Lösung zu finden ist.
Es sind die Wiederholungsmotive, insbesondere die unerwartbaren, auffälligen, seltsamen, überhäufigen, mit denen Kafka den Weg weist, vor allem wohl mit dem Motiv „Bett“ als Ort des beginnenden und sich fortsetzenden Verhängnisses für den Protagonisten. Schon im ersten Satz vieler seiner wichtigsten Texte befindet sich der „Held“ in oder an einem Bett, und in der Folge führt er mit vielen Figuren ausführliche Gespräche, seltsam oft in oder an einem Bett, immer vergeblich. Auch die Türe ist solch ein unheilvoll schicksalshaftes Motiv, vor der Türe zum Gesetz verbringt etwa der „Mann vom Lande“ in der bekannten „Türhüterlegende“ die letzten Jahre seines Lebens, und Türhüter finden sich quer durchs Werk.
Schon Bett, Türe und Türhüter führen zum Urgrund des Unheils und des inneren Kampfes. Kafka erzählt im berühmten „Brief an den Vater“ sein Grundtrauma: Im Bett liegend störte er als kleines Kind nachts die Eltern und wurde einige Minuten vor die Türe auf die finstere Pawlatsche gestellt, wodurch der Vater zu einem strengen Türhüter wurde.
Zahlreiche Indizien und unmissverständliche Hinweise in den Texten deuten darauf hin, dass Kafka (zumindest in seiner Vorstellung) damals das erotische Beisammensein seiner Eltern störte und seine Verbannung daher zur Errichtung eines Sexualtabus führte. Dieses behinderte in der Folge seine Beziehungen zu Frauen, und der weiterhin drängende Trieb geriet in jenen Konflikt mit dem traumatisierten Ich, den Kafka dann zum Gegenstand seiner Literatur macht, in der er genau diese Szene auch mehrmals eins zu eins nacherzählt (z.B. in der Balkonszene im „Verschollenen“).
Wie wir seit Freud wissen müssten, ist diese psychische Konstellation durchaus typisch für uns Menschen. Wenn der entsprechende Konflikt in uns auch nur selten Kafka´sche Ausmaße annimmt und Persönlichkeitsspaltungen auch andere Ursachen haben können: Das Grundmuster des solcherart problematischen Umgangs eines Menschen mit sich selbst beschreibt Kafka mit großer Präzision und Dichte, wie sich nicht zuletzt an der Beschreibung des letzten Weges des Josef K. erweist. Der Konflikt entsteht im Kind, welches sich schon im Gitterbett seelisch aufspaltet (die Kinder „hinter einem Gitter“) und setzt sich im schlimmsten Fall bis zum Tod fort (die vergeblich ausgestreckten Hände, die der Sterbende erblickt, aber nicht ergreifen kann).
Wenn wir Leser Kafkas die Arme des Dichters, welche er uns mit seiner Literatur entgegenstreckt, nicht ergreifen, nützen wir nicht das Erkenntnispotenzial seines Werks und dürfen uns nicht wundern, wenn wir Konflikte in uns und mit anderen Menschen so schlecht verstehen und noch schlechter lösen können ...
© Gerhard Rieck 2000 - 2024
(E-Mail: gerhard.rieck@gmx.at)